Prolog
Uckermark, Sommer 1998
Über der Lichtung im Wald schien bereits der silberne Mond. Betäubend dufteten die Waldhyazinthen. Grillen zirpten, und die Nachtigallen sangen ihr Lied im dunklen Gebüsch. Ella hörte die Schnarrwachtel im hohen Gras rufen. Von ihrem Opa wusste sie, dass sie ein gefräßiger Vogel war, was ihr sehr gefiel. In ihrer Vorstellung war die Wachtel eine runde schwarze Kugel wie ein Pfannkuchen auf orangen Vogelbeinen. In diesem Moment aber schien ihr heiserer Ruf von allen Seiten zu ertönen. Ella zog sich ihre Strickjacke dichter um ihren zitternden Körper. Mit einem leichten Schauer sah die die Fledermäuse stumm durch die kühle Nachtluft flattern. Hier und da am Rande des schmalen Waldpfades, den sie mit Mathias entlang ging, glommen die Lichtlein der Glühwürmchen. „Lass uns schnell noch mal zum See gehen“, hatte Mathias vorgeschlagen als sie abends ihre Jeansjacke suchte. „Vielleicht hast Du sie ja nach dem Baden dort vergessen.“ „So spät noch?“, hatte Ella ihren Freund ängstlich gefragt. Und nun liefen sie durch den ruhig schlummernden nächtlichen Wald zu ihrer Lieblingsbadestelle.
Plötzlich raschelte etwas hinter Ella im Gras. Erschrocken sah sie sich um und bemerkte ein kleines Häschen, das über den Pfad hoppelte. Mathias allerdings war verschwunden. „Mathias, wo bist Du?“ rief Ella so leise wie möglich als plötzlich eine Eule aufstieg und flatternd verschwand. Wie in einem Gruselmärchen rief und lachte es da plötzlich aus der dunklen Waldestiefe. Nur ein Uhu, versuchte Ella sich zu beruhigen, als plötzlich ein dunkler Schatten auf den Weg sprang und sie am Arm packte. Laut schluchzend drehte Ella um und wollte so schnell wie möglich nach Hause laufen. „Jetzt warte doch, Ella“, rief Mathias. „Ich bin es doch nur. Du musst doch keine Angst haben, Du bist doch kein Kind mehr.“ Wütend blitzte Ella ihren Spielkameraden an: „Doch bin ich! Mit Dir will ich nie wieder spielen.“ Und so schnell sie konnte lief sie zurück zum Haus ihrer Großeltern.
Ihre Oma Mathilde wartete bereits in der Küche auf Ella und fragte lächelnd: „Na, habt ihr die Jacke noch gefunden?“ „Nein“, weinte Ella nur und kuschelte sich bei ihrer Oma ein. „Mathias hat mich erst alleine im dunklen Wald stehen lassen. Und dann ist er wie ein Gespenst hinter einem Baum hervorgesprungen und hat mich fürchterlich erschreckt.“ Mathilde schüttelte nur den Kopf und sagte beruhigend: „Opa wird morgen mit Mathias reden, und wir zwei kuscheln uns jetzt bei einer schönen Tasse Orangen-Lavendel Tee ein.“ Das war Ellas Lieblingstee. Sie brauchte nur den fruchtigen Orangenduft riechen und schon hatte sie wieder gute Laune.
Am nächsten Morgen kam Mathias, neben Ellas Opa hertrottend, ins Haus. Ella und Oma Mathilde waren gerade dabei, einen Heidelbeerkuchen zu backen. Obwohl er erst zehn Jahre alt war, reichte Mathias schon bis zu Opas Schultern, stellte Ella fest. Er war schon richtig groß. Und da sie ein Jahr jünger war, sollte eigentlich Mathias als ihr Freund auf sie acht geben und nicht dauernd ärgern. Mathias lebte auf dem Nachbarhof ihrer Großeltern. Ella verbrachte fast alle Schulferien bei ihren Großeltern und spielte auch oft mit dem blonden Nachbarsjungen, den sie eigentlich sehr gerne mochte. Aber gestern Abend hatte er es einfach übertrieben und sie hatte nun keine Lust mehr Zeit mit Mathias zu verbringen. Sie versuchte so böse und erwachsen wie möglich zu schauen. Auf keinen Fall würde sie ihm wieder einmal verzeihen.
„Es tut mir leid, Ella“, sagte Mathias zerknirscht. „Ich wollte Dich nur ein bisschen ärgern. Dass Du Dich so sehr erschreckst, wusste ich doch nicht.“ Mit seiner Zerknirschung war es aber ganz schnell vorbei als er den warmen Kuchenduft bemerkte. Strahlend fragte er: “Backt ihr wieder einen leckeren Kuchen?“ Oma Mathilde musste schnell nach unten in ihre Rührschüssel schauen, um ihr Lachen zu verbergen. Sie mochte den kleinen sympathischen Lausbuben. Auch Ella konnte nun nicht länger böse sein. Mathias Begeisterung war so ansteckend. Deshalb mochte sie ihn auch so sehr. „In einer halben Stunde könnt ihr ein Stück essen, Kinder“, sagte Oma Mathilde schmunzelnd. Mathias und Ella schauten sich gleichzeitig an. Und als Ella grinsend vom Stuhl sprang und zur Tür zum Garten lief, rannte Mathias bereits lachend hinterher.
…